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Neu Amerika

veröffentlicht: Amann, Carolyn. „Neu Amerika“ (Auszug) in Miromente. Zeitschrift für Gut und Bös. Hg.: Mörth, Wolfgang. Gabriel, Ulrich. Heft: 55. Dornbirn: März 2019. S.28-31.

(Auszug)

Ich kralle mich an Gräsern fest. Dünne, trockene Halme. Sie helfen mir nicht, sie halten nicht stand. Ich ziehe sie samt Wurzelwerk aus der Erde und bohre stattdessen meine Fingerspitzen in den Boden hinein. Du schreist. Keine Worte. Du schreist aus voller Kehle. Kehlengeräusche. Ich wende mein Gesicht ab. Meine Augen sind fest verschlossen. Als könnten sie mir etwas anhaben, deine Schreie.

Das Schreien nimmt dir Kraft. Ich kann mein Bein aus deinem Griff lösen und stoße mein Knie irgendwo in dich hinein. Deine Stimme verstummt in einem Japsen nach Luft. Dann schlägt mein Kopf schwungvoll gegen deinen. Das Geräusch hallt nach. Die Kraft weicht uns aus den Gliedern. Diese Runde ist vorbei.

Der Wind bewegt die Sträucher, wellt das Land. In meinem Fokus stehen Halme, gelbbraun mit ausgedörrten Blüten, an denen flugbereit die Samen hängen. Mein Brustkorb brennt, wenn er sich beim Atmen hebt. Wir reagieren nicht, sekundenlang. Schweiß tropft mir in die Augen. Der Fokus verrinnt.

Ich würde gerne aufgeben und hier liegen bleiben. Unbewegt mit dir. Kurz genieße ich den Zustand. Doch ein am Boden zersprungenes Glas fügt sich nicht mehr in seine Gesamtheit zurück. Wir werden nicht ruhig aufeinander liegen bleiben. Und trotzdem.

Die Hitze ist schwer unter deinem Geruch. Ein grob gewebter Teppich aus Schweiß und Wärme. Er lässt sich kaum atmen. Sekunden später stoße ich dich weg, von mir herunter. Du bleibst wie ein Sack auf der Erde liegen. Ich blicke in dein Gesicht. Ich will sehen, ob du es genossen hast. Dein Mund verzieht sich zu einem Grinsen. Ich richte mich auf, ziehe den letzten Speichel in meiner Mundhöhle zusammen und spucke nach dir. Ich trete auf dich ein, in deine Seite. Dann beginne ich zu rennen. Ich weiß nicht, ob ich langsam oder schnell laufe. Meine Beine sind taub, doch die Bewegung stimmt.

Wir sind zusammen in dieser Hütte, einer kleinen, ausgestattet mit Spinnweben und ausgefressenem Holz. Außer einem Bett und ein paar Küchenmöbeln besitzen wir nicht viel. Bevor wir hierher kamen war das anders. Da hatten wir getrennte Wohnungen, getrennte Leben. Es war die Konsequenz unseres Zusammentreffens. Bedingungsloses Aufeinander Einlassen. Das geht besser, wenn man weg ist. Wenn man es wagt wegzugehen. So kamen wir hierher. In unsere Hütte, die zwar nur vorübergehend, aber jetzt im Moment die Welt ist.

(…)

Der Himmel ist tiefblau. Soweit man sehen kann, erblickt man keine Menschenseele. Nur Landschaft. Meine Schuhe versinken im Dreck. Der Acker ist von einem Kanal umzäunt, einem Rinnsal, das weder fließt noch steht. Eher suppt es. Man kann das Wasser durch die Gräser kaum erkennen und sieht erst, wenn man drinnen steht, wie tief der Morast ist. So waten wir durch den Wiesenkanal hinüber zum Acker, der brach vor uns liegt und durch grobkörnige Erdstücke eine unwirkliche Mondlandschaft bildet. Dunkelbraun, feucht und fest. Es ist ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Die Sonne hat trotz fortgeschrittenem Herbst noch Kraft und bescheint unbeirrt den Acker. Knapp über der offenliegenden Erde wimmelt es vor Insekten. Es scheint, als hätten alle Flügel bekommen, jeder Käfer, jede Made. Alles schwirrt den klirrenden Novembertagen entgegen, aus Hoffnung just hier noch ein neues Leben zu beginnen. Die Erde bekommt dadurch etwas Fauliges. Später wird die Kälte sie alle töten.

Wo ist die Grenze? Ich habe bereits mehrmals gesagt, dass ich müde bin, nicht schritthalten kann. Mir surrt der Kopf vom ganzen Ungeziefer. Sie fliegen mir immerzu ins Gesicht. Hauchdünne Fliegen, die man fast einatmet, und schwere Brocken, die aufprallen wie Luftdruckgeschosse. Meine Füße sind längst nass und meine Schuhe bereits vollgesogen. Wenn man nicht aufpasst, rutscht man von den Grasinseln in den Matsch ab. Du bist ein paar Meter vor mir, gibst die Richtung an. Du redest immerzu, doch ich kann dich nicht verstehen, du bist zu weit weg. Ich muss weitergehen. Hinsetzen geht hier nicht. Alles ist nass. Du hast dich umgedreht und ruderst mit den Armen, rufst nach mir. Meine Geduld ist nun am Ende. Die Sonne blendet und ich schwitze. Jeder Meter wird durch die vollgesogenen Schuhe mühsamer. Mit meinem nächsten Schritt rutsche ich ab. Ich gehe in die Knie, stütze meinen Fall mit meinen Händen. Meine Finger tauchen zwischen den Gräsern ab. Sie sinken ein in weiche, losgelöste Erde. Mein Kinn wird nass.

Wo die Grenze ist, habe ich dich gefragt. Du hast daraufhin etwas von angrenzender Wiese, die keinesfalls nass ist, erzählt, nicht unweit von hier. Wir müssten sie eigentlich schon erreicht haben. Du verstehst auch nicht, warum sich der Wasseracker so weit zieht. Es kann sich nur mehr um Meter handeln. Es scheint, als könntest du das Ende schon sehen – wo das Grün etwas heller wird, die Grasfetzen lichter. Dort wo die Erde brachliegt. Das ist für mich aber schon über der Grenze. Ich bin jetzt nass. Ich friere und bis nach Hause ist es über eine Stunde Fußmarsch. Vor uns liegt nur diese Mondlandschaft. Selbst an der Mündung wohnt niemand. Wir sind vom Nirgendwo weiter ins Nirgendwo hineingelaufen. Wie unnütz. Die Nässe verbreitet ein Gefühl auf meinem Körper, als könnte ein Windhauch ihn jederzeit in Stücke reißen. Hoffentlich bleibt dieses Lüftchen aus. Ich weiß nicht, ob ich schreie oder weine. Wahrscheinlich sage ich nichts.

(…)

Die Wunde, die sich vom Nagel meines rechten Zeigefingers bis in die Handfläche zieht, heilt nur langsam. Das Fleisch war bis zum Knochen hin eingeschnitten und um die Spalte zu schließen, habe ich die auseinanderklaffenden Hautstücke mit Klebeband befestigt. Sie ist zur Hälfte bereits wieder zusammengewachsen, doch durch die stete Belastung der Arbeit hat sich Eiter gebildet, der jetzt aus der Wunde wässert. Über das Klebeband lege ich dicke Mullbinden, damit kein Schmutz eintritt und abends spüle ich die Wunde mit Schnaps aus. Die vollgesogenen Verbände vom Tag koche ich nachts aus und lasse sie trocken, um sie wieder zu verwenden. Ich bemühe mich, mit der Wunde so reinlich umzugehen, wie es meine Tätigkeit in der Metzgerei zulässt. Bewegen kann ich den Finger noch nicht ganz. Er lässt sich nicht mehr vollständig abwinkeln. Vielleicht ist eine Sehne gerissen, aber fürs Zusammennähen ist es bereits zu spät.

Heute Nacht hat die Wunde meine endlose Ruhe zerstört. Was als stechende Begleiterscheinung und Einschränkung leicht unter die Wahrnehmungsgrenze verschoben war und durch Gewohnheit ausgeblendet blieb, reißt mich mit spitzen Lanzenstichen innerhalb eines, unter meiner Haut liegenden Vulkans aus dem Schlaf. Nur die Stiche deuten ein Zentrum an, außerhalb ist die gesamte Umgebung der Wunde ein großer Brandherd, der weder Anfang noch Ende, weder Zentrum noch Peripherie erkennen lässt. Ich kann den Arm kaum heben und möchte zugleich die Hand unter einem Kissen ersticken. Gegenpressen, gegen den Schmerz. Noch im Traum sehe ich, wie die Feuerberge sich vor mir auftun und stöhne wegen ihrer Hitze, stöhne wegen ihrer Schmerzen. Ich überrede mich, endlich aufzuwachen. Ich öffne die Augen und wimmere wie ein kleines Kind nach meiner Mutter. Bei Bewusstsein ist der Schmerz schwerer auszuhalten. Irgendwie stehe ich auf und gehe runter in die Metzgersstube. Hin zum Waschbecken und drehe den Wasserhahn auf. Ich halte die rot angeschwollene Hand unter den harten Wasserstrahl. Die Schmerzen werden mehr. Kaum vorstellbar, aushaltbar. Meine Beine wollen nicht standhalten. Ich greife mit der gesunden Hand an den Waschbeckenrand, um die kaputte weiter unters Wasser zu halten. Das Wasser und der Schmerz sind ohrenbetäubend. Ich presse meinen Atem langsam zwischen meinen Zähnen hindurch, um nicht bewusstlos werden. Meine Augen sind auf den Knauf des Wasserhahns gerichtet. Ich fokussiere den Knauf so gut es geht. Die Tränen lassen alles verschwimmen. Ich warte darauf, dass die Hand vom kalten Wasser taub wird.

Die schwere Hand des Metzgers greift meinen Arm und zieht ihn zu sich. Ich habe ihn nicht bemerkt. Er steht hinter mir. Sein schwerer, warmer Atem ist dicht an meinem Ohr spürbar. Ich will ihm etwas sagen, doch da scheint kein Mund mehr, keine Zunge zu sein. Er drückt in die Eitertaschen meiner Wunde, die sich unter der Haut gefüllt haben und die neben dem angeschwollenen Rot fasst blass wirken. Ich spüre davon nichts. Als ob ich eben erst aufgewacht wäre, an einem ganz anderen Ort. Ich blicke ihn an. Sein grobes Gesicht schlägt Falten. Er lässt den Arm wieder los, dreht das Wasser ab und geht. Meine Hand ist taub. Sie hängt rot und angeschwollen im Waschbecken. Wie ein Fremdkörper, ein abgestorbener. Durch die gelbe Notlampe wirkt der Fliesenraum fast warm. Das kleine Gitter um die Glühbirne zieht lange Schatten. Ich selbst stehe in einem Dreieck aus Gittermuster und Fliesenkante und fange an, die abgetrennten Flächen zu zählen. Zuerst die am Boden, dann die an der Wand. Bei Nummer Sechszehn ist der Metzger zurück und greift sich meinen Arm abermals. Er bindet ihn mit einem Lederriemen ab, nimmt die Hand und schüttet aus einer blechernen Dose Jod darauf.