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Die Fischer

Veröffentlicht: Lichtungen Ausgabe 142/XXXVI. Jg/2015

Es war etwas nach September, die Luft war durch die Feuchtigkeit erstarrt. Der Wind hatte das Nass so kräftig gegen die Felsen geschmettert, dass es durch den Aufprall in feine Moleküle zersprungen war, die nun durch die Kälte schwerelos im Raum hingen und durch die Wärme meiner Haut geronnen. Das Salz bildete auf den Steinen des Hafens bereits eine Karstlandschaft, die an vereiste Wüsten erinnerte. Es knirschte bei jedem Schritt, mit dem ich eine solche Kristallinwelt zerbrach. Der Duft von Fisch war schon so lange an diesem Ort eingesessen, man konnte ihn trotz der Kälte noch riechen. Ein griechischer Touristenort, gottverlassen, jetzt, da die Saison vorbei war.

Die Landschaft hat sich hier an den Menschen abgearbeitet. Um mich herum nur tiefe, gefurchte Gesichter, so rau wie das Wetter heute Vormittag. Ihrem Blick nach bin ich der einzige Tourist hier. Es ist unangenehm, diesem zuwider neugierigen Gegaffe standzuhalten. Ich hatte vor meiner Ankunft kein Zimmer reserviert, sondern war vom Busbahnhof weg, einfach in die Stadt spaziert und hatte Ausschau nach einem geöffneten Hotel gehalten. Meine Wahl fiel auf ein Haus mit angeschlossener Ferienhausanlage, ein Feriendorf. Dort bot man mir jedoch kein Zimmer im Haupthaus an, sondern mir wurde ein Apartment inmitten dieses nicht bewohnten Dorfes zugewiesen. Ein junger Grieche führte mich stumm zwischen den Blöcken hindurch, die aus jeweils drei miteinander verbundenen Fertighäuschen bestanden. Ich ging mit etwas Abstand hinter ihm her. Die reihenlangen, schlecht geweißelten Häuschen, die sich in ihrer Vielzahl zu einem immens großen Gebäudekomplex zusammenschlossen, wirkten auf mich wie ein futuristisches Straflager in einer nicht allzu fernen Zukunft. Der Pfad war höchsten einen Meter breit und an den Seiten von einem schmalen Grasstreifen gesäumt. Der Rest der Landschaft war betoniert.

Die Bar, in der ich jetzt saß, war augenscheinlich der einzige Ort, an dem sich Menschen aufhielten. Auf dem Weg hierher hatte ich einige Lokale und Buden passiert, die nur zur Sommersaison geöffnet hatten und nun mit Brettern und Gittern verbarrikadiert waren. Ich kippte den roten Hauswein eilig hinunter und wartete darauf, dass seine Wirkung den Frost und das Unwohlsein überdeckte. Die Frage nach dem Grund, warum ich hier war, wagte ich mir kaum zu stellen und bei jedem Anflug eines Sinnierens darüber riss ich mich zusammen. Breitbeinig und nach hinten gelehnt, versuchte ich auf der kleinen Holzbank sicher zu wirken. Ich war trotz dessen kurz den Tränen nahe, als der Kellner die Zwei-Liter-Rotwein Buttel unaufgefordert in einem Flechtkorb vor mich auf den Tisch stellte. Er zog sich einen Stuhl heran und schenkte ein.

Wir stießen die Gläser zusammen und tranken schweigend. Draußen war es bereits dunkel geworden und ich dachte kurz daran, dass ich den Weg zurück zum Hotel wohl nicht mehr finden würde. Es war mir gleich. Ich konnte mir ohnehin nicht vorstellen, in dieses entmenschlichte Betonquartier zurück zu kehren. Der Kellner zündete sich eine Zigarette an und nickte mir wissend zu, wobei mir unklar war, auf was er sich bezog. Ich trank noch einen weiteren Schluck und nickte ebenfalls.

Über der Bar war eine Neonröhre angebracht, die kaltblau flackerte. Ihr Licht vermengte sich mit dem der Glühlampen über den Tischen. In langgezogenen Wellen verlief der Übergang vom kalten ins warme Licht durch den Raum. An der Bar stand eine Gruppe Fischer beisammen, die, ebenso eilig wie ich, Schnapsgläser leerten. Sie waren darin aber durchaus erfolgreicher, denn das gebrannte Zeugs hatte bereits ihre Glieder mit Wärme gefüllt, sodass ihre Gesichter vor Hitze glühten. Die Stimmen lärmten durch den Raum und dahinter waren im Dunst der Zigaretten Bilder von Schiffen im Sturm zu sehen. Ich unterhielt mich mit dem Kellner mit Händen und Füßen. Ich fragte ihn nach den Fischern und bald war klar, dass jeder, der kein Hotel besaß, einer war. Er gestikulierte ausladend, sodass der rote Wein aus seinem Glas schwappte. Unbeirrt wischte er sich seine Finger an der Schürze sauber. Ich sagte ihm, dass ich gern mitfahren würde, mit den Fischern hinaus aufs Meer. Er fragte mich, ob ich fische. Nein, deutete ich, bisher noch nicht.

Die Fischer grölten, willigten ein und gaben mir Schnaps zu trinken. Ich wankte immer noch in meiner haltlosen Stimmung, wurde dann aber bald zu betrunken, um zu denken und schlief auf der Holzbank, auf der ich saß, ein.

Es war kaum hell, als die Wirtin mich an meiner Schulter riss. Die Fischer hatten sich auf dem Platz vor der Taverne versammelt und waren bereit, auszuziehen, um den heutigen Fang einzuholen. Das Wetter war, soweit ich von der Scheibe aus erkennen konnte, uneinladend, berstend. Schwach und fröstelnd richtete ich mich auf. Beim Hinausgehen griff die Wirtin nach meinem Handgelenk, sagte etwas mir Unverständliches und zwängte meine Hand in den Ärmel einer verwittert gelben Sturmjacke. Sie setzte mir eine Mütze auf, schnürte die Jacke zu und bekreuzigte zuerst mich und dann sich selbst. Mit einem heftigen Ruck wurde ich durch die Tür gestoßen und stolperte auf den Platz. Die frische Salzluft erschlug mich.

Innerhalb von Sekunden verfiel ich in einen Schockzustand, der mich gefühllos den Weg zu den Fischern, aufs Boot und den Beginn der kaltnassen Fahrt durch die Wellen ertragen ließ. An Deck wurde ich von den Seemännern von der einen in die andere Ecke geschoben. Ich fügte mich bedingungslos und beobachtete starr ihr geschäftiges Treiben, wie sie die Leinen los machten, die Netze präparierten und nach Prüfung des Wellengangs und des Windes den Kurs bestimmten. Meine Finger klammerten sich an der rostigen Metallstange fest, die als eine Art Reling den brüchigen Kahn umschloss. Wir waren schon ein gutes Stück von der Insel entfernt, als ich zu mir kommend erfasste, wo ich war.

Ich suche eine wirkliche Tätigkeit. Etwas, das man tut und dadurch einen Zustand verändert, der sich dann nicht mehr revidieren lässt. Ein Einschnitt in die Welt, sodass man sicher gehen kann, dass sie auch wirklich existiert. Ich stehe auf einem Fischerboot, um einen Fisch zu töten. Das Geschick und die Technik, die dahintersteckt, einen Fisch zu fangen, will ich jetzt mal außer Acht lassen. Es ist der Moment, indem man den gefangenen Fisch totschlagen muss, den ich suche und von dem ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob ich ihm gewachsen bin.

Im Minutentakt zogen die Fischer ihre Beute an Land. Große, graublaue Brocken aus Fleisch, schimmernd und feucht. Nachdem sie das Kräftemessen durch die Schnur gewonnen hatten, schnitten sie die Fische los, die sich dann widerspenstig am Boden des Decks wanden. Um dem naturwidrigen Bild ein Ende zu bereiten, griffen sie die Fische direkt mit der Hand und schlugen sie gegen die Kante des Schiffs. Mit einem Schlag war es meist getan. Sie hatten ja Routine.

Einer der Seemänner hatte mich mit einer Angel ausgestattet. Er war einen Kopf kleiner als ich und in eine speckig glänzende, alte Karojacke eingepackt, die er bis zum Kinn hochgezogen hatte. Seine Mütze bedeckte fast zur Gänze seine Stirn, sodass ich von seinem Gesicht nur die buschigen schwarzen Augenbrauen und die darunter liegenden grünen Augen erkennen konnte. Um die Angel festzuhalten, musste ich meinen Griff von der Reling lösen. Ich rutschte auf dem nassen Deck herum und fast in einen Haufen abgetöteter Fische hinein. Der kleine Fischer in der Karojacke drückte nochmals meinen Griff um die Angel zurecht und wandte sich ab. Der Wind auf See eisig, sodass meine Hände beim Auswerfen zitterten. Hilfesuchend blickte mich um, doch die Fischer gingen bereits wieder ihrer eigenen Arbeit nach. Ich versuchte standzuhalten und sog die kalte Luft tief in meine Lungenflügel.

Er war bestimmt um die zehn Kilo schwer. Einer der Fischer hatte mir gerade zum Warmwerden einen Schluck Schnaps gereicht, da dehnte sich das Holz meiner Angel der Faser nach, gestützt von der reißfesten Nylonschnur, die sich wie von Zauberhand Spiel nahm, bis ich die Rolle kurz vor Anschlag stoppte. Ich kurbelte, würgte, zog. Das Tier im schwarzen Nass unter mir war in seinem Element und ich musste mich Widerstand suchend gegen die Reling stemmen.

Sein Kopf war bläulich getupft und sein Körper reflektierte perlmuttfarben das Licht. Jede einzelne Schuppe schien ein Eigenleben zu haben, denn sie regten und senkten sich unabhängig voneinander, wohl den Widerstand des Wassers suchend. Ich riss die Angel hoch und hievte den Fisch zu mir aufs Deck. Der Haken, mit dem ich ihn gelockt hatte, war ihm durch sein Fleisch gefahren und größtenteils wieder sichtbar. An Bord des Schiffes angelangt hatte er aufgehört zu zappeln und ein ledriger Rotbart reichte mir sein Messer, mit dem ich die Schnur durchschnitt.

Der Fisch landete vor meinen Füßen und begann, sobald er aufschlug, wieder wie wahnsinnig zu zappeln. Ich versuchte das Tier zu fassen, doch seine ungewohnte Oberfläche gab mir keinen Halt. Sobald ich ihn fasste, gruben sich meine Finger in den glatten Körper des sich windenden Tiers, doch er schüttelte mich von neuem ab. Der vierte Versuch gelang. Ich sagte mir: „Du machst ihm jetzt sein Ende.“ Meine Finger spannten ihren Griff fester um den Fisch und ich holte aus, um ihn an die Kante des Decks zu schlagen.

Ein kleines Zittern war in meinen Handgelenken, als ob sich Druck in meinem Körper hochpegelte, der sich auf diesen Fisch gerichtet entladen wollte. Den kurzen Moment der Schwäche aushaltend, nahm ich mich zusammen und holte aus.

Kurz bevor er aufschlug schloss ich die Augen. Ich hörte den dumpfen Knall des Fischkörpers, der wuchtig gegen das Holz preschte. Meine Hände, überrascht vom Rückschlag, den die Kante ihnen, durch den Fisch hindurch, entgegenwarf, lösten ihren Griff. Ich riss die Augen auf und sah den Fisch mir über die Reling entgleiten. Er segelte silbern schimmernd aufs Meer hinaus, der Wasseroberfläche entgegen. Die Sonne blendete. Nicht einmal einen Augenblick und das tiefe Schwarz hatte ihn verschluckt.