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Funkenflug

Veröffentlicht: Amann, Carolyn. „Funkenflug“ in Heimatstern. V#34. Hg.: Mörth, Wolfgang & Gabriel, Ulrich. Vorarlberger Zeitschrift für Literatur: Bregenz, 2019. S.199-205.

Die Wangen werden immer heißer. Als würde sich einem die flackernde Glut selbst auf die Haut legen. Es leuchtet Rot, Gelb und Schwarz, mit immer neuaufkeimenden Strudeln. Sie ziehen die Sicht hinab, irgendwo ins Innere. Abgewendet nimmt die Kälte zu. Außer dem Feuer ist da kein Licht. Ohne das Feuer hier keine Wärme. Selbst der Schnee beginnt zu schmelzen. 

Aus dem glühenden Balken, der zuvor umwunden war mit Stroh und Eichenzunder, löst sich ein kleines pulsierendes Stück. Ein mobiler Brandherd. Außen von einer schneeweißen Ascheschicht bedeckt. Die Luft hebt den Funken an und zieht ihn nach oben. Zuerst senkrecht am Feuer entlang, bis zum höchsten Punkt. Dann in die schwarze Nacht hinein und auf die Wiesen hinaus. Die Dunkelheit lässt nur mehr den glühenden Kern erkennen. 

So schwebt der Funkenflug in der fast windstillen Nacht, die bevölkert wird vom leisen Knacken der Äste. Die Jahreszeiten haben gewechselt. Kleinere Waldtiere auf Streifzügen, mit Fell in den schönsten Brauntönen. Nichts, was heute noch geschossen wird, höchstens zur Abwehr oder zum Abziehen. Am Waldrand dann das Haus. Vier Generationen haben hier schon ihren Holzlöffel abgegeben, stets an die Jüngeren. Die Kinder des ältesten Bruders. Die anderen Geschwister, geflissentlich davongescheucht. Ein Hof wird nicht gespalten. 

Durch das einzig beleuchtete Fenster, das zum Lüften offensteht, schwebt der Funkenflug in die Stube. Hier bekreuzigt man sich selbst beim Fluchen noch; Sakramost, Herrgottsack. Wegen dem Herrgottswinkel. Denn besser könnt er gar nicht zuschauen, der Heiland mit geweihtem Tannenzweig im Rücken. Wo bei jeder Mahlzeit der Gebetswürfel entscheidet, auf welche Art Gott zu danken ist. Die Kinder zanken sich ums Vorrecht. Schmeißen das abgegriffene Schnitzwerk über den Tisch. Bis die Wahl getroffen ist, dann wird es leise. 

Holzstube mit Ofen und Eckbank. Holztisch mit Schublade. In der Mitte des Tischs eingelassen, die Schiefertafel, die bedeckt von Tischtüchern, nur spätnachts bei Besuch gelüftet wird, fürs Spiel. Mit einfachdeutschen Karten, den Spielstand mit Kreide notiert. Wo man sich noch an die gekreuzten Hände des Großvaters erinnern kann, die kantig und grau waren und in seinem Sterbebett dann gelb durchzogen, wie auch sein ganzer abgemagerter Körper. Der selbst in dieser elenden Stunde niemals lieblos war. 

Ein Luftzug weht das glühende Stück zum Fenster hinaus, durch das es eingetreten ist und treibt es am Haus vorüber. Hier, zur Straße hin, ist es aufgeräumt. Arbeitsstiefel ordentlich nebeneinander aufgestellt, zur Eingangstreppe hin, der Weg gekehrt, Blumenbeete gejätet. Als ob sich da nie der Arbeits-Dreck ablagert, wie von Geisterhand, immer gepflegt. Der Funkenflug schwebt weiter, an den handtellergroßen Schindeln vorbei und in den Hof hinein, über den die Wäscheleine gespannt ist, gestützt von metallenen Stehern. Wo die Bettlaken hängen, da wo die Großtante mit den tiefen Falten im Gesicht die weiße Kochwäsche trocknen lässt und bewusst jene Laken daruntermischt, die sie nicht mit extra heißem Wasser gewaschen hat. Die Laken, an denen das Regelblut klebt, das die älteste Tochter in der Nacht überrascht hat. Braune Flecken auf dem sonst stets gebleichten Leinen. Das kann man selbst im Dunkeln erkennen. Damit alle sehen, was für eine Sau sie ist. 

Für wenige Augenblicke hält der Funkenflug auf dem Rand einer Holzschindel inne. Sein Leuchten pulsiert. Die vergangenen Winter haben die Schindeln aufquellen lassen. Einzelne Sprieße stehen ab und bilden dahinter tiefe Furchen. Der Funkenflug leuchtet in sie hinein. Dann hebt er ab, schwebt zur Straße hin, bis vor zur Kreuzung, an der ein Bildstock steht. 

Die prachtvoll verzierten Bilder, in kleine Häuschen gefasst, die ihnen Schutz vor Regen und Witterung bieten, erinnern und ermahnen. Ihr Sinn und Zweck. Dieser hier an einen Galgen. Ehemals ein Richtplatz, mit Pranger und Mordwerkzeug, für weltliche Gerichtbarkeit. Vergangen und vergessen. Nur die kleinen Kerzen und frisch gepflückten Blumen am Bildstock wissen davon. 

Bei jedem Vorübergehen bekreuzigt sich die Großmutter, für die verstorbene Schwester, wie sie sagt. Der hatte sie ein Kind abgenommen, einen Säugling, einen Zwilling. Denn Kinder waren da zu viele, die Schwester noch im Wochenbett. Das war schon recht. Die älteren seien bereits verwahrlost, den Säugling nehme sie nur auf Zeit. Sie selbst hat nur drei Kinder gehabt, eins davon ist ihr verstorben. Leid hatte es ihr getan, deshalb hat sie mitgenommen. 

Der Funkenflug schwebt durch die Eisengitter, die den Bildstock verschließen. Dahinter stehen am Gesims zwei Kerzen. Unruhig geben die Flammen das verwaschene Bild hinter sich frei. Eine Frau mit weißer Ketzermütze. Die Hände gefaltet, der Blick nach oben gerichtet. Sie steht auf einem Haufen Äste, um sie herum ein Priester, Bauern und in Roben gekleidet, die Grafschaft selbst. Es ist kaum Farbe zu erkennen. Einzig das matte Rot der Feuerzungen, die sich um die Beine der Ketzerin legen. Darüber die schwarze Nacht. 

Zuhause hat der Säugling viel geschrien. Es mag einen nicht verwundern, meint die Großmutter, bei dem Lärm, der zuvor bei der Schwester geherrscht hatte. Der Arzt verordnete klar Ruhe. Eine eigene Schlafstatt, ein eigenes Zimmer. Ruhe und ausschreien lassen. Da hat sich das Kind beruhigt. Im dunklen Zimmer. Hat Strategien entwickelt. Hat sich, für sich selbst, die hundertfachen Sterne vorgestellt. Wie die glühenden Kohlestücke, wenn’s ein Holz zersprengt. Selbst als es die Großmutter dann zurückgegeben hat. Kein Mucks. Kein Ton. 

Funkenflug, hundertfach, wie Sterne, die in ihrer Vielzahl am Himmel kleben und darunter der große, verschnittene Baum mit tiefen Schatten, in den ein Baumhaus gezimmert ist, in das das jüngste Mädchen gesperrt wird, weil die anderen größer sind und es dann von den Seitenritzen aus bespucken. Drinnen ist‘s düster, nur das Lärmen der Burschen, fünf an der Zahl. Dazwischen das Spuckgeräusch. Der Speichel. Und sie schreit so laut, dass es ihr nicht in das kleine Kinderhirn hinein gehen will, wie das keiner gehört haben soll. 

Der Funkenflug verliert an Kraft. Weg von der Kreuzung, hinaus auf die Flur. Bis in den Schatten der Bäume. An den gelben Augen der kleinen Waldtiere vorbeischwebend, schwindet sein Licht, das Schwächer ist, als die reflektierenden Pupillen. Bald ist nichts mehr da vom Feuerrausch, der selbst das Eis zum Schmelzen brachte. Sein Leuchten pulsiert. Sobald es dunkel ist, kommt der Winter. 

Das verglühte Stück fällt herab und landet auf den Händen der Großmutter, die nach dem Tod ihres Mannes hunderte Stunden mit dem Enkelkind Rosenkranz betet. Stets am selben Platz in der Stube. Eine Kerze vor sich entzündet, jedes einzelne Wort in meditativer Leier vor sich ausbreitend. Wegen dem am Sterbebett verratenen Geheimnisses. Weil die Brut dann doch das eigene Fleisch und Blut ist und weil man so viel anders, besser hätte machen können. 

Hätte sie das nur gewusst. Sie am Stuhl, das Kind auf der Eckbank. Den Herrgott im Rücken. Hunderte Stunden, gebenedeit seist du Maria, voller Gnade, bitte für uns Sünder, zusammen mit ihm, dem verachteten Kind. Zur Erlösung. Meiner, seiner, ihrer. 

Das Unausgesprochene brennt sich stetig in das Fleisch. Egal, wer das Haus verlässt. Egal, wer darin bleibt. Es braucht kein Wissen darüber. Es steht zwischen allen und immer im Raum. Als warten alle nur darauf, dass ein Funkenflug es entzündet. Ein kleiner Brandherd, und alles steht in Flammen. Der Buckel der Kinder ist größer als der der Mutter. Das hat sich übertragen. Es gibt keinen Ausweg, außerhalb des Brands. Nicht in denen, nicht in ihnen. Nur im Ende. Die eigentliche Erbsünde.

Und erst wenn die feinen Zungen den Rocksaum erreicht haben, der eilig glimmt und unter dessen Schichten sich der ausgestopfte Unterleib verbirgt, vermag das Hölleninferno die Geister der Zuseher wieder zu bündeln. Die blutunterlaufenen, glasigen Augenpaare richten sich auf das Spektakel. Schneeweiße Asche im meterhohen Scheiterhaufen. Schon brennen die Kleider lichterloh, wenige Sekunden, bevor es die ährene Puppe zerfetzt. In Stücke reißt. Damit es Sinn macht. Das Holz und das Stroh, der Schnaps und das Warten, der Frühling, der dann endlich kommt. Die Hexe, die dann nicht vergraben werden muss. Denn sonst ist das Sünde. Und treibt uns die Geister nicht aus. Zur Reinigung, als Katharsis. Bei solchen Dingen fragt man nicht, zu welchem Preis.